Dr. Hans M. Schmidt
Aus Deva’s Gartenreich
Einführung: Ausstellung „Deva Wolfram – Seeds“, Europ. Akademie, Bad Neuenahr-Ahrweiler, 24. Nov. 2011
Wir wissen oft nicht, was wir sehen. Unser Blick ist dumm, weil wir oft nur das kennen, was wir mitbringen. “Man sieht nur, was man weiß.“ war dazu Goethes schlichte Feststellung.
Vertraut ist zuweilen der Blick in den Spiegel, aber damit kommt man nicht sehr weit. Außer dass man vielleicht erfährt: schon wieder steht man sich selbst gegenüber.
Dennoch gelingt es manchmal im Sehen, Betrachten, das vielleicht sogar ins Schauen mündet, etwas zu erfahren, was unsere Unwissenheit verändert. Wäre das nicht so, so bliebe allein die Verzweiflung.
Eine Gelegenheit zu einer spezifischen Horizonterweiterung, eventuell ein wirklich erhellender Moment, mag hier heute Abend diese Ausstellung der Europäischen Akademie von Deva Wolfram mit dem Titel „Seeds“ bieten. (Seeds ist ein Wort für Samen, jedoch eher für Saat als Erbgut usw.)
Fragen wir uns, was wir sehen, wenn wir hier umher blicken. Offensichtlich verschiedene Gruppen malerischer und zeichnerischer Arbeiten.
Beginnen wir mit den Gemälden, alle Öl auf Leinwand, traditionell und solide, doch recht unterschiedlich im Format, darunter einige auffallend schmale, gestreckte Formate, hoch- und querrechteckig, von 200 x 80 cm bis zu einer Reihe kleinerer, geradezu handlicher Formate von 30 x 40 cm. „Malen ist“ auch für Deva Wolfram – mit einem Wort von Gerhard Richter – „eine andere Form des Denkens“. Und nachdrücklich betont diese Künstlerin: “Ich male Fragen.“ Lachend setzt sie hinzu: „Blümchen interessieren mich gar nicht.“
Die stets dichte und nuancenreiche Malerei, fein gestuft in den Farbkontrasten, warm und kalt, und in den Hell- Dunkelwerten, ist offenbar in spontaner Unmittelbarkeit auf die Fläche gebracht. Lebendige Bewegtheit und improvisatorische Offenheit, die immer etwas von Werden und Vergehen suggerieren, charakterisieren die Werke. Sie gehören alle gemäß dem Titel der Ausstellung zu der umfassenden Serie „Seeds“, haben also keine spezifischen Titel. Das gilt auch für das im Licht eigentümlich zweigeteilte Selbstbildnis der Malerin mit der leuchtend hell-gelben Hose, gleichermaßen Nähe und Distanz veranschaulichend.
Auch wenn es sich hier um eine groß angelegte Folge handelt, kommt bei den einzelnen Arbeiten nichts Stereotypes ins Spiel. Jedes Bild ist etwas Eigenes, sowohl in der jeweiligen
Stimmung und Farbkonstellation, ob sie nun geradezu apodiktisch oder wie leise hingehaucht erscheint, als natürlich auch im temperamentvollen Pinselduktus. Bemerkenswert ist die austarierte Balance ihrer Bilder, auch wenn sie manchmal aus kühnen Kontrasten gewonnen ist. Wohl haben die meisten Bilder eine starke Fernwirkung, doch wollen sie aus der Nähe und einzeln betrachtet sein. Man sollte sie im Detail lesen – wie etwa den Brief eines lieben Menschen.
Dann erkennt man Pollen- oder Samenformen, Früchte und immer wieder auch Gefäße, Gefäße zum Sammeln, Ordnen und Bewahren.
Die Gemälde sind keineswegs illustrativ, sie legen der Freiheit der Malerei mit Blick auf eine äußerliche Bedeutung keine mimetischen Zügel an.
Ihre durchaus beabsichtigte Botschaft – also kein l’ art pour l’art – verdeutlicht sich in der Ausstellung durch die jeweils 12-teiligen Gruppen der gemalten Herbarien (jeweils Öl auf Umweltpapier und mit Titeln wie Wegwarte, Wegranke oder Turmkresse) bzw. der Herbarblätter, die regelrechte botanische Dokumente der Künstlerin, die zugleich professionelle Botanikerin ist, darstellen. Von solchen Herbarblättern, die mit ihren aufgelegten Pflanzenteilen sogenannter Wildpflanzen, vulgo Unkraut, vor dem Hintergrund einer botanischen Systematik, mit Zeichnung und Text unverkäufliches wissenschaftliches Dokument sind, hat Deva Wolfram inzwischen eine respektable Sammlung angelegt. Es gibt inzwischen mehr als 150 solcher Herbarblätter. In früheren Herbarien sieht man die einzelnen Darstellungen einheitlich gemalt (z.B. Anna Maria Sibylla Merian oder aus dem Botan. Garten des Bischofs von Eichstätt). Ergänzt wird dieses Material durch ca. 8000 hochwertige fotografische Pflanzenaufnahmen. Einige Beispiele davon finden Sie auch in dieser Ausstellung.
Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert und selbstverständlich in vielen Generationen zuvor war im 20. Jh. über weite Strecken die künstlerische Beschäftigung mit der Natur bzw. ihren Produkten mehr als verpönt. Cézanne, einer der Väter der bildnerischen Moderne, hatte die Kunst noch in einer Haltung „parallel zur Natur“ gesehen und Paul Klee hatte die Auffassung vertreten: „Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig.“ (P. K., Kunst-Lehre, 1991, S. 65) In diesem Kontext wären gewiss auch die verschiedenen Künstlergärten mit zu bedenken, ob von Claude Monet in Giverny, von Max Liebermann am Wannsee oder in Italien die von Niki de St. Phalle oder Daniel Spoerri.
Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, nicht zuletzt unter dem Einfluss der ökologischen Bewusstwerdung, ist ein neues Interesse für die Natur erwacht, mehr oder weniger vereinzelt und bei oft recht unterschiedlicher Orientierung: ob es sich dabei, wie das Beispiel von Wolfgang Laib zeigt, um die Beschäftigung mit Blütenstaub, Reis, Milch oder Bienenwachs handelt (documenta 8, 1987, Kat 2, S. 142) oder um Lois Weinbergers Migrantenpflanzen (Neophyten) (documenta 10, 1997) oder etwa um die Fotogramme mit Vorliebe nach Wildpflanzen von Claudia Fährenkemper.
Die entschiedene Hinwendung zur Natur vollzog sich in Deva Wolframs Schaffen vor allem unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl 1986. Wichtige Impulse lieferte auch die italienische Arte povera (Mario Merz, Pennone etc.).
Die Schönheit bleibt dabei nicht auf der Strecke, die Schönheit gepaart mit dem Anspruch der Wahrheit. Ich weiß, das sind große Worte. Denn – dies nur als ein Beispiel – als Leibniz und Newton mit der Infinitesimalrechnung begannen, notierte Georg Christoph Lichtenberg in seinem Sudelbuch: das neue mathematische Verfahren bestehe darin, „kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten“. Und noch ein paar Jahrhunderte davor hatte Dürer in seinem Tagebuch vermerkt: „ Denn was die Schönheit sei, das weiß ich nit.“
(oder so ähnlich) Die Kunst hat viel mit Annäherung zu tun; sie enthält das Wissen und den Zweifel. Außerdem bedarf sie der schöpferischen Mitwirkung des Betrachters. Das sei nur in groben Zügen skizziert.
Ich glaube nicht an den Blödsinn von der Autonomie der Kunst. Kunst ist immer in dem Geflecht vieler Komponenten verwurzelt. Und zugleich gilt (nach Jean-Luc Nancy, S. 72): „Vielleicht ist die Kunst nur sie selbst, wenn sie sich selbst am wenigsten erscheint.“ Bilder sind – vor aller Sprache – ein wichtiges Medium der Projektionen und haben Statthalterfunktionen im geistigen Kosmos.
Die Bilder von Deva Wolfram sind Zeugnisse des Staunens, des entdeckenden Forschens, der Bewunderung von Reichtum , Lebensfülle – bis ins Geistige – und der Schönheit der Wildpflanzen, die meist unbeachtet und restlos unterschätzt allenthalben in unserer Umwelt anzutreffen sind. Und es ist schließlich ganz im Sinne von Deva Wolfram, wenn heute absolut ernsthaft von „Neurologie der Pflanzen“ die Rede ist.
Schon in Platons „Timaios“ liest man, ausdrücklich sogar in Zusammenhang mit Wildpflanzen: „Denn alles, was Anteil an Leben hat, kann wohl mit Recht ganz richtig als Lebewesen bezeichnet werden.“ (S. 169)
Aber ich wage mich nicht ins botanische Terrain, das kann Deva Wolfram selbst am besten vermitteln.
Was sie betreibt, ist kein Luxus im saturierten Gefüge unserer Konsum- und Mediengesellschaft. Es ist im Gegenteil eine dringende Notwendigkeit, wobei die Kunst Erkenntnis- und Lebensmittel ist, zur Rettung und Bewahrung eines wichtigen Teils unserer Fauna. Vor wenigen Tagen noch konnte man in einem Bericht des Landes NRW hören, dass nur 25% des Baumbestandes unserer Wälder noch intakt , als noch nicht wirklich kaputt seien. Auch das eine Frage von Sehen und Wissen? Ach, wenn man es bloß gewusst hätte …..