Kulturschichten

Gründungsrituale

hommage an Gernot Assum

Wir bauen, weil wir Angst vor Natur haben. So simpel formulierte es Gernot Assum. Seine eigenen Häuser atmen wie lebende Organismen und erzählen von seinem Vergnügen an originellem Bauen, von seinem Mut, sie neben die üblichen Reihenhäuser hingesetzt (und durchgesetzt) zu haben.

Lange Perioden hat er sich in Nepal aufgehalten, architektonischen Bestand aufgezeichnet und seine Aufmerksamkeit bei Wanderungen durch karge Hochgebirge auf den Zusammenhang zwischen Boden – dem Vegetationsmantel der Erde- und Bodengestaltung durch den Menschen gerichtet. Was für die Natur vegetativ zusammenhängt, ist für den homo sapiens offensichtlich ein Problem: die Bodenverdrängung durch Architektur wird von den Beteiligten als Krise ständig neu formuliert, in Büchern und Fotobänden kompaktiert und/oder einfach durch Bauen verdrängt.

Im Zusammenhang mit unserem Ausstellungsprojekt „Kulturschichten“ haben wir häufig über Gründungsrituale gesprochen. Das sind meist minimale, ordnende Eingriffe in die Natur, um einen gewählten Ort zu bezeichnen und zu weihen.

Heute begnügt man sich bei öffentlichen Gebäudegründungen mit einem ritualisierten Spatenstich. Zur Stadtgründung von Rom wurde eine Mulde im Boden ausgehoben, die den mundus repräsentierte, den „Mund“ und Ursprung der Welt. Noch früher ist der locus amoenus bezeugt, eine lieblicher Hein, der mit einem Stein, einer Statue oder einfach mit der Erinnerung bezeichnet und neu besetzt wurde. Wichtig dabei ist immer der ursprüngliche Akt, der Neuanfang, die primäre Erkenntnis: wie der erste Satz auf unbeschriebenen Papier, der die zukünftige Richtung angibt.

Für viele Gesellschaften war und ist bis heute der Rückgriff auf historisch- und völkerkundlich bekannte Gründungsrituale der würdigste Weg aus dem Dilemma der Landbesetzung und Bodenveränderung; in der Form von Mandalas manifestiert sich in Tibet und Nepal der Weg zu körperlicher und geistiger Heilung 1. Gernot Assum hatte nicht mehr genügend Lebenszeit, selber, wie geplant, darüber zu schreiben.

Städter hätten viele Gelegenheiten, „Gründungsrituale“ der Natur kennen zu lernen, wenn sie ihr Augenmerk auf Baugruben und Stadtbrachen richteten! Ich dehne bewusst den Begriff Gründungsrituale auf die Mikro-Flora und -Fauna aus, die sich entschließt, in „bestimmten Abläufen2 auf von Menschen hergestellten Böden in Stadtgebieten zu „gründen“, d.h. in Bauschutt, Abfälle, künstlich aufgebrachte Oberboden, von Baufahrzeugen festgebackene Böden etc. Leben zu bringen. Vor vielen Jahren erfuhr ich von Gernot Assum, dass Baugruben, die ein Weile ruhen, von Heilpflanzen erstbesiedelt werden.

Ich skizziere als Beispiel eine typische Gründungsepisode in der Stadt: Ein altes Grundstück wird abgerissen, eine Büroanlage hochgezogen, Bauschutt mit Resterde für die zukünftige Grünanlage aufgeschüttet und plattgewalzt, aber wegen Finanzierungsnotstand bleibt das Gelände ein paar Jahre brach liegen. Das ist einerseits eine ökologische Katastrophe auf viele Jahre hinaus, weil sich hohe, mehrjährige Pflanzen von Bauschutt, mit Resterde gewürzt, nicht ernähren können und warten müssen.

Das Gelände ist aber ideal für kleine pflanzliche Neubesiedler, die allmählich und mit sich schnell vermehrenden Bodenorganismen und Würmern stellenweise lebendigen Boden bilden. Wo Baumaschinen den Boden verdichtet haben, brechen schließlich Seggen durch. Alte Feuerstellen werden regelmäßig von Funaria, dem Drehmoos, bewachsen. 3 Auf den Haufen vergessener Teerpappe und Pflastersteine bauen Steinbrechgewächse kleine Steingärten. Und wenn auf dem Gelände mal ein Latrine für die Bauarbeiter gestanden hat, kann man den rechteckigen Fleck noch lange an Ampfer und ähnlichen Gewächsen erkennen. Am Rand, wo sich Aushuberde befindet, werfen Leute oft ihre pflanzlichen Abfälle hin und so siedeln die ausgedienten Topfblumen, die Ex-Fenster – und Schreibtischpflanzen, eben dort.

So oder ähnlich spielen sich Gründungsrituale von Kleinst-Gesellschaften ab. Sie folgen einer eigenen „Mandala“-Logik und determinieren damit den zukünftigen Beziehungsreichtum zwischen Samen- Zufall, Bodenbeschaffenheit, Nährstoffen, Umwelt, Kultur etc; ein Beziehungsgeflecht, von dem wir gerade den Zipfel einer Ahnung haben, eine so feine Ahnung wie der Silberfaden, an dem sich die erste kleine Spinne hoffnungsvoll und abenteuerlustig zu dem öden aber neuen Erdboden hinüberschwingt.

Gernot Assum begrüßte jede Rückbesiedelung der horizontalen Bauflächen. Er beobachtete die vielfältigen Algen, Flechten, Moose und Blütenpflanzen, die sich auf nur millimeterdünnem angewehtem Substrat und zwischen rechtwinkligen Steinfugen einnisten. Denn gerade die Pionierbesiedlung auf „neuen“ Böden ist an Vielfalt paradoxerweise den altgewordenen Vegetationszonen überlegen, dafür zahlenmäßig unterlegen und nicht von Dauer: entweder gräbt wieder jemand um oder die Pflanzensuzzession 4 tut ihr übriges.

In Hundert Jahre Einsamkeit von García Marquez wird der letzte Spross der Sippe in einem unbewachten Moment von Ameisen aufgefressen. Gernot Assum hatte zwar großen Respekt vor der Natur, aber wesentlich weniger Paranoia als die mit Schrubber, Messer und Schaber bewehrten Mitbürger, die Bürgerinitiativen bilden, um „ausländische“ Pflanzen zu killen, weil sie der „einheimischen“ Flora Konkurrenz machen. Er erklärte, dass der häufig dargestellte „Dämon“ der Natur, der mit ausgeklügelten Städtegründungen an ausgewählten Orten und unter bestimmter Anordnung der Schutzgottheiten in Schach gehalten wurde, nicht in die Sparte: Aberglauben gehört, sondern für eine reale Bedrohung stand wie Vulkane und ausufernde Flüsse.

Gernot Assum hatte geplant, das aufgerissene Erdmaul der zukünftigen Schnellbahntrasse, die durch Siegburg, unter dem Friedhof von Sankt Augustin hindurchgeht und weitere Stollen zu dokumentieren.

© Deva Wolfram


1 G.Assum verwies in diesem Zusammenhang auf Untersuchungen von C.G.Jung.
2 Endlich gibt es ernstzunehmende Studien auch zur Stadtökologie: Oliver L. Gilbert Städtische Ökosysteme, Radebeul,1994
3 im kosmos Naturführer Unsere Moos- und Farnpflanzen wird es als gesellschaftsvages Allerweltsmoos beschrieben
4 Pflanzensuzzessionen sind so etwas wie ein natürlicher Palimpsest: Auf dem Pergament / Boden stand ein Text/ eine Pflanzengesellschaft, der/ die nicht mehr für angemessen befunden, überschrieben/ überwuchert wurde, aber jeder gute Spurenleser entschlüsselt die frühere Anlage