Mein Garten

Mein Bruder Felix sandte mir eine Fabel von einem Flusslauf und seinen Verlaufsplänen, die nicht mehr übereinstimmten und den Flusswanderer verwirrten, solange bis er meditierend wieder klar sah.
Mein pantha rei, eine Biegung des Arnozuflusses Vicano, samt Anrain kann zwar mit wenigen Blicken überflogen werden und hat seit Jahrhunderten den selben Zuschnitt, ist aber nicht weniger verwirrend.
Seit 18 Jahren beobachte ich die Vegetation diesseits und jenseits des Ufers. Ich helfe mit Büchern nach, brüte über das Geheimnis der Fotosynthese, verfolge Pflanzenformen, ihre Gerüche, ihre kleinen und weniger kleinen Missbildungen, ihren Verfall und lerne ihre Namen in verschiedenen Sprachen, während in mir ein digitales Spruchband mit roten Leuchtpunkten in schwarzem Laufkasten die immer gleiche Frage herstellt: was sehe ich da eigentlich? Die immer gleichen Pflanzen- und Tierarten, die periodisch als neue Individuen im Garten auftauchen? Oder was?

Habe ich Blätter, Blüten und Zweige angefasst, rieche ich an meinen Fingern und halte sie andern unter die Nase. Immer wieder. andere riechen ebenso leidenschaftlich an Parfüm, Pipi und Aa, vielleicht weil sie Sehnsucht nach Garten haben, nach Finger in die Erde bohren, nach Laub zerkrümeln, nach alles anfassen. Immer noch warte ich auf Antwort, wenn ich mit dem Grünzeug rede. Manchmal sage ich zu meiner Katze: Hör endlich auf, Katze zu spielen, 9 Jahre reichen. Stell dich auf zwei Beine, zieh dir was an, wir fahren in die Stadt. Nützt nicht. Dennoch bilde ich mir ein, wir verstünden uns, ich bilde mir ein, der Garten erkenne mich, dulde meine plumpen Eingriffe.

Die Zypresse habe ich zu dicht an die Mauer gepflanzt, den Schneeballstrauch zu dicht an die Zypresse. Den Rosenstöcken wünsche ich seit Jahren einen gnädigen Wintertod, weil sie mich täglich daran erinnern, dass ich sie nicht richtig zu pflegen weiß. Sie mickern unverdrossen vor sich hin. Die Lagerstroemia und die Dahlien wachsen waagrecht, weil ich ihnen den Zugang zur Sonne mit einem Sonnenschirm versperrt habe. Die ehemals zahlreichen Lauchgewächse haben inzwischen im Schatten eines exotischen Strauches ihren Geist aufgegeben. An den Schmetterlingsbäumen kann ich mich mit der Säge vergreifen soviel ich will, ihre Triebe verstellen mir im Jahr darauf um so mehr die Sicht. Sie scheinen meine Gedanken zu lesen und sich darüber schief zu lachen. Nichts da von der Pflanzensensibilität, die angeblich an unserm bösen Blick eingeht. Was ich alles angestellt habe, um den Holunder wegzukriegen! Er hat gewonnen. Ich koche wieder brav Holundersirup, Holundermarmelade und backe Hollerkuchen im Frühjahr. Nur die Zwergmispel hört auf mich, allerdings nicht ganz freiwillig: Du sollst nach unten wachsen und nicht nach oben! Dazu beschneide ich ihr einen Zweig von „oben”. Darauf hin dreht sie wieder ab in die gewünschte Richtung.

Meinen Hitze-liebenden Gewächsen entlang der Ufermauer ist die kalte Flussluft bestimmt unangenehm, aber weder niesen noch husten sie. Sie haben entschieden, auch hier prächtig zu gedeihen und arrangieren sich mit einem weiteren Übel, sie werden nämlich auf der anderen Seite von Katzenpisse berieselt. Wo oft Schuhe trampeln, hat sich ein Kurzhaarteppich aus Flohknöterich, Fingerkraut und Klee ausgebreitet. Ein ausgespuckter Kirschkern ist inzwischen fünf Meter hoch, zwei mal gegen jede Kunstregel umgesiedelt worden, aber er denkt nicht daran aufzugeben. Entweder muss ich demnächst Kirschen pflücken oder im Winter nimmt ihn der Fluss mit, der große Flurbereiniger, der launische Gärtner mit der Riesenschere, der mich trauern und jubilieren lässt.
Dann wieder sehe ich mich auf Knien, zwischen den Kleinsten der Kleinen, hingegeben, aufmerksam, wünsche ich wäre die Gottesanbeterin, die sich zwischen den Dornen der Cydonia sicher fühlt, danke Grillen und Zikaden für ihr Gezirpe und fahnde nach Spuren, die mir den Schlüssel für einen Kurzschluss zwischen meinem und der Pflanzen Gehirn liefern könnten. Ich fühle mich inzwischen allen Abrahams der Bibel ebenbürtig und würdig, vom Strahl der Erkenntnis getroffen zu werden.

Aber mal ehrlich: höchst selten sitze ich länger als Augenblicke in der Wüste, beziehungsweise in meinem Garten in der Anschauung des Ewigen. Ich habe auch keine Zeit, Gras wachsen zu hören, oder Bingelkraut seine Brut wegschleudern zu sehen. Meine Geduld reicht im September für höchstens drei Embryonen-Rauchwolken, die das Glaskraut in die Luft bläst. Packt mich aber mal der Gartenarbeitwahn, reiße ich auch blühende Silenen aus. Im Eifer schaue ich nicht mal zur Brücke hoch, von wo aus jeder mein frevlerisches Tun beobachten kann.

Mit den Lavendelbüschen mitten im Garten bin ich im Reinen. Jeder Zweig ist eine Kostbarkeit, ich krümme ihnen kein Haar, verpasse ihnen einmal im Jahr die nötige Minimal-Frisur und Lavendelsträuße stehle ich vornehmlich von fremden Lavendelpflanzungen. Schwertlilien, (Latein: Iris, Familie der Iridaceen) haben kulturell in der Toskana eine wichtige Rolle gespielt und fast ausgespielt. Das Wahrzeichen von Florenz ist il giglio, die Lilie, die eigentlich eine Schwertlilie ist, aber giagiolo, Gladiole und Iris genannt wird. In honorem lasse ich Schwertlilien auch bei mir wuchern. Iriswurzeln waren in der Toskana ein wichtiger ökonomischer Faktor, sie wurden gesammelt, getrocknet und europaweit verkauft. Statt sie aber selber zu ernten und zu mahlen, wie es die Tradition will, kaufe ich den lavendelfeinen Duftstaub lieber für teures Geld im Bioladen.

Im unteren Bereich meiner Hausmauern wachsen die dekorativen Polster des Zymbelkrauts. Es reicht ein offener Klettverschluss meiner Arbeits-Stiefel, um die filigranen Büschel anzukletten und auszureisen. Tot. Ich schwärme anderen vor, wie die Blüten dieser cymbalaria nach der Befruchtung ihre Köpfchen neigen und verstecken, um ungestört Nachfolger auszubrüten. Jede Blüte scheint aus rosa Wachs oder aus Marzipan gestanzt, jedes Blatt ein winziger Dreiklang auf glänzender Oberfläche. Wenig später kehre ich „aus Versehen” ganze Zymbelkraut-Familien von der Hauswand in den Bach. Die Hausfrau in mir setzt eben andere Prioritäten. Wenn Menschen ihresgleichen ausrotten, setzen sie ihnen wenigstens Denkmäler. Allein die Schandtaten an der Flora, die auf mein Konto gehen, könnten ganze Soldatenfriedhöfe überwuchern. Es gibt zwar schon Hochrechnungen, wie viel Hektar Land pro Jahr von der Erdoberfläche verschwinden, aber keine Zahl zur Pflanzenmenge, die pro Person verdrängt wird. Sie wäre vermutlich erschreckend und jedes Denkmal würde unter der Last solcher Zahlen vergehen.

Es ist mein Garten, in dem ich mich ziemlich ungestraft an Natur ausprobieren und die Anwesenden zu lebendigen Denkmälern erklären kann, zu Kündern und Bewahrern unserer grünen Vorzeit, zu Nutzpflanzen, zu Ästhetikschule, zu Farbenlehre oder was sehe ich da eigentlich?
Pagiano, August–September ’00